Mi

09

Mär

2011

Von der Sucht zum Zwang

Ich sass gestern 8.3.11 bei Euch im Käfigtum am Vortrag von Professor
Binswanger. Danke, dass ihr ihn nach Bern holtet und reden liesset,
seine Analyse des Status quo ist meiner Meinung nach brillant.

Zwei Dinge fielen mir auf:

1)    Eine Fixierung auf den Indikator des Wachstums, das Brutto
National Produkt. An diesem, recht zweifelhaften, Indikator wird nicht
gerüttelt und Wachstum, das noch immer mit mehr Wohlstand gleichgesetzt
wird wird noch immer auf diese Zahl gestützt. Das BSP stützt sich nur
auf harte Faktoren (Zahlen), weiche, wie kulturelle Werte, Schutz der
Umgebung/Natur, Nachhaltigkeit (auch der Wirtschaft) werden nicht
erfasst und nicht berücksichtigt. Am BSP hängen aber viele weitere
Themen, wie z.B. ein Rating von internationalen Agenturen, welche das
Investitionsklima in einem Land beeinflussen.

2)    Es fehlen (fast) jegliche gesellschaftlichen Perspektiven und
Möglichkeiten für den Einzelnen kamen am Vortrag überhaupt nicht zur
Sprache (dabei hat Alexander Rüstow bereits in den 40er Jahre seinen
dritten Weg formuliert, vgl. «Die Religion der Marktwirtschaft»). Seine
Aufgabe sieht Binswanger in der Polemisierung des Status quo (seine
eigene Aussage nach dem Vortrag). So sieht er die Macht in diesem Lande
bei den Grosskonzernen (und leider nicht bei der Politik), und diese
Grosskonzerne sind vor allem (oder nur!) auf Gewinn ausgerichtet.
Vergessen geht dabei, dass an den Aktionärsversammlungen neben der
Stiftung Ethos lauter kleine Aktionäre sitzen, die gebannt auf etwas
hoffen: eine Auszahlung einer Rendite. Genaugleich verhält es sich an
der Börse: wie viele Hausfrauen und Hausmänner sitzen mittlerweile am
Computer und „börselen“ ein wenig? Um sich ein neues Auto zu kaufen oder
in die Ferien zu fahren? Wir sitzen alle im gleichen Boot – eine
Schuldzuschreibung auf andere wäre fehl am Platz.

Decroissance-Bern beschäftigt sich mit dem Wachstumszwang. Was mir
gestern sofort ins Auge sprang:

1)    Die Gesellschaft (unser System!) ist süchtig. Süchtig nach Geld.
Immer mehr muss her, damit (so die Argumente der Befürworter) der Hunger
bekämpft werden kann und die Armut, die Arbeitsstellen erhalten bleiben
und vieles mehr (ausser dem Service public, der wird trotz Wachstum
ständig abgebaut?!). Urs Gasche widerlegt ja diese Behauptungen der
Befürworter in Eurer Zeitung recht schlüssig. Wahrhaben will diese
Tatsache aber niemand, Süchtigkeit ist etwas für drogenabhängige Looser
und sicher nichts für die Schweiz! Die Symptome, kennt man sich ein
wenig aus, sind aber die gleichen wie bei einem Alkoholiker: Immer mehr
muss her, Vertuschung der Realität (was die UBS genau macht, weiss wohl
keiner mehr, aber der Staat (=die Bürger) bezahlte dafür?!), ein
Zugrunderichten des Körpers (beim Staat = das Land, die natürlichen
Ressourcen) und Weiteres mehr.

2)    Die Gesellschaft ist co-abhängig. Auch das hört man nicht gerne –
denn über Geld lässt sich mit vollem Portemonnaie gut diskutieren. Und
bei den Meisten Schweizern klingelt die Kasse (im Vergleich zu anderen
Ländern, auch in Europa) recht ordentlich. Ich vermute es reicht bei
allen Zuhörern gestern Abend für Essen, Wärme und ein Dach über dem Kopf
– das ist aber vielerorts nicht selbstverständlich. Was sind die
Anzeichen für Co-Abhängigkeit, Mit-Abhängigkeit, dem kranken System
gegenüber? Man hat keine klare Vorstellung, was „normal“ ist, man lügt,
wo es leicht wäre, die Wahrheit zu sagen (vgl. Bundesrat Merz), man ist
entweder übertrieben verantwortungsvoll oder völlig verantwortungslos,
etc.. Für alle Dynamiken eines Co-Abhängigen lassen sich in der
Wirtschaft und der Bevölkerung genug Beispiele finden. Wahrhaben will
dies aber scheinbar niemand, und so sucht man auch an der falschen Ecke.

Wer nicht erkennt, dass er süchtig ist nach Geld (und in einem
Suchtsystem lebt!), um sich damit Produkte zu kaufen, mit denen er sich
besser fühlt (so verspricht es zumindest die Werbewirtschaft), der kommt
keinen Schritt weiter in Richtung einer Genesung – und somit einer
Gesundung!

Ihr von Decroissance-Bern habt Euch der Aufklärung verschrieben, um den
Wachstumszwang zu entlarven, das ist gut. Schön, wenn ihr Euch auch
einmal dem Wachstumszwang zugrunde liegenden Thema widmet, der Sucht:
nach Geld, Anerkennung durch Produkte (Autos, Kleider, Handy,
Feriendestinationen, Erlebnisse, etc.) und Verschleierung der Tatsachen
(vgl. Öl-Konzerne).

Mit einem Gruss

R. S.

 


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Di

11

Jan

2011

Natürliches Wachstum und krankes Wachstum

Zur Grafik:

 

Unser lineares Denken (z.B. "ich werde schön gleichmässig immer ein Jahr älter", "ich bekomme jeden Monat meinen gleichen Lohn") hindert uns oft an der Vorstellung, was dauerndes prozentuales Wachstum bedeutet und wo es hinführt.

Prozentuales Wachstum ist das, was unser Wirtschaftssystem "fordert": 2% Wachstum pro Jahr, 5% Zins pro Jahr, 12% Rendite pro Jahr und andere phantastische Versprechungen.

Grafisch aufgetragen führt prozentuales Wachstum zu einer ständig steiler werdenden Kurve. Zu exponentiellem Wachstum.

Der häufigste Denkfehler, der sich daraus ergibt: 10 Jahre lang 5% Wachstum ergibt eben nicht 5% x 10 = 50% Zunahme, sondern 62,9% (berechnet als [{1,05 hoch 10} -1] x 100).

Die Höhe der Kurve verdoppelt sich in gleichmässigen Abständen. Als Faustregel, welche sich aus der Mathematik der Exponentialfunktion ergibt, kann man die Verdoppelungzeit berechnen aus 70 geteilt durch die Wachstumsrate, also z.B. 70 durch 5% pro Jahr = 14 Jahre (und nicht 20 Jahre wie bei linearem Denken).

Solches Wachstum ist krank, weil unnatürlich. Kein physikalisches oder biologisches System kann längere Zeit auf solche Weise wachsen, wie man es für die Wirtschaft bis in alle Ewigkeit vorgesehen hat. Einzige Ausnahmen: Krebsgeschwüre und andere entartete Systeme, welche sich unweigerlich der Selbstzerstörung hingeben.

Gesundes, natürliches Wachstum respektiert Ressourcen und Systemgrenzen. Dies führt zum sogenannt logistischen Wachstum, in welchem der anfängliche Anstieg sich abflacht und zu einer stabilen Situation führt.

 

Wie kann sich eine angeblich "freie" Marktwirtschaft dem bekannten, derart kranken Zwang zu immer mehr, grösser, schneller unterwerfen, der nur dank Plünderung an natürlichen Ressourcen und dem Raubzug auf die Bedürfnisse unserer Nachkommen möglich ist?

 

 

 

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Mo

31

Mai

2010

Wie wird Wirtschaftswachstum verstanden? Kann es so weitergehen? Kann man es anders definieren?

Das sind 3 Teilfragen. Kurze Antworten:

 

1.

Wirtschaftswachstum wird als Zunahme des BIP verstanden, also einer Zunahme des Gesamtwerts aller Güter und Dienstleistung in einer Volkswirtschaft.

Dies ist nur möglich, wenn entweder die Menge dieser Güter und Dienste ständig zunimmt, einhergehend mit Mehrproduktion, Mehrkonsum, Mehrenergieverbrauch, oder der Bewertungsmassstab kleiner wird.

Auch das viel zitierte "qualitative" Wachstum bewirkt letztlich gesamthaft ein quantitatives Wachstum, weil niemand den Massstab ständig vermindern kann und will.

 

2.

Wenn man die Erde als Referenzsystem nimmt, muss man davon ausgehen, dass es physisch begrenzt ist, seine Ressourcen begrenzt sind und deshalb ewiges Wachstum gemäss 1) absolut gesehen nicht möglich ist.

Deshalb muss möglichst bald ein Wirtschaftssystem gefunden werden, welches ohne dieses ewige "Mehr-schneller-grösser" auskommt.

Eine Entkopplung des geldwertmässigen Wirtschaftswachstums von einer Steigerung des Ressourcenverbrauchs und der gesamten Belastung des Planeten ist bisher nicht gelungen.

 

3.

Man müsste das "Wachstum" anders definieren können. Wachstum an Erkenntnis, an Einsicht, auch an geistigem Reichtum, ist sicher möglich, da es keine physischen oder biologischen Grenzen kennt oder sprengen kann. Und es sollte auch einen Wert haben. Aber dieser Wert kann nicht länger ein Geldwert sein, weil dieser eben letztlich mehr reale "Werte", also mehr Produkte erfordern würde.

Wir müssten auch immaterielles Wachstum als Fortschritt verstehen können. Technologische Neuerungen müssten zu einer gesamthaften Entlastung führen, und nicht durch Rebound- oder gar Backfire-Effekte die Effizienzgewinne zunichte machen. Nur solches "Wachstum" ist planetenverträglich. Die Frage ist also, wie wir unsere Wirtschaftssysteme, in denen heute noch alles Zins tragen soll und wo bereits nur mit dem ehemals reinen Tauschmittel Geld angeblich weiteres Geld verdient werden kann, dazu bringen, planetenverträglich zu werden.

 

 

ein paar Wachstumskurven:

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