Von der Sucht zum Zwang

Ich sass gestern 8.3.11 bei Euch im Käfigtum am Vortrag von Professor
Binswanger. Danke, dass ihr ihn nach Bern holtet und reden liesset,
seine Analyse des Status quo ist meiner Meinung nach brillant.

Zwei Dinge fielen mir auf:

1)    Eine Fixierung auf den Indikator des Wachstums, das Brutto
National Produkt. An diesem, recht zweifelhaften, Indikator wird nicht
gerüttelt und Wachstum, das noch immer mit mehr Wohlstand gleichgesetzt
wird wird noch immer auf diese Zahl gestützt. Das BSP stützt sich nur
auf harte Faktoren (Zahlen), weiche, wie kulturelle Werte, Schutz der
Umgebung/Natur, Nachhaltigkeit (auch der Wirtschaft) werden nicht
erfasst und nicht berücksichtigt. Am BSP hängen aber viele weitere
Themen, wie z.B. ein Rating von internationalen Agenturen, welche das
Investitionsklima in einem Land beeinflussen.

2)    Es fehlen (fast) jegliche gesellschaftlichen Perspektiven und
Möglichkeiten für den Einzelnen kamen am Vortrag überhaupt nicht zur
Sprache (dabei hat Alexander Rüstow bereits in den 40er Jahre seinen
dritten Weg formuliert, vgl. «Die Religion der Marktwirtschaft»). Seine
Aufgabe sieht Binswanger in der Polemisierung des Status quo (seine
eigene Aussage nach dem Vortrag). So sieht er die Macht in diesem Lande
bei den Grosskonzernen (und leider nicht bei der Politik), und diese
Grosskonzerne sind vor allem (oder nur!) auf Gewinn ausgerichtet.
Vergessen geht dabei, dass an den Aktionärsversammlungen neben der
Stiftung Ethos lauter kleine Aktionäre sitzen, die gebannt auf etwas
hoffen: eine Auszahlung einer Rendite. Genaugleich verhält es sich an
der Börse: wie viele Hausfrauen und Hausmänner sitzen mittlerweile am
Computer und „börselen“ ein wenig? Um sich ein neues Auto zu kaufen oder
in die Ferien zu fahren? Wir sitzen alle im gleichen Boot – eine
Schuldzuschreibung auf andere wäre fehl am Platz.

Decroissance-Bern beschäftigt sich mit dem Wachstumszwang. Was mir
gestern sofort ins Auge sprang:

1)    Die Gesellschaft (unser System!) ist süchtig. Süchtig nach Geld.
Immer mehr muss her, damit (so die Argumente der Befürworter) der Hunger
bekämpft werden kann und die Armut, die Arbeitsstellen erhalten bleiben
und vieles mehr (ausser dem Service public, der wird trotz Wachstum
ständig abgebaut?!). Urs Gasche widerlegt ja diese Behauptungen der
Befürworter in Eurer Zeitung recht schlüssig. Wahrhaben will diese
Tatsache aber niemand, Süchtigkeit ist etwas für drogenabhängige Looser
und sicher nichts für die Schweiz! Die Symptome, kennt man sich ein
wenig aus, sind aber die gleichen wie bei einem Alkoholiker: Immer mehr
muss her, Vertuschung der Realität (was die UBS genau macht, weiss wohl
keiner mehr, aber der Staat (=die Bürger) bezahlte dafür?!), ein
Zugrunderichten des Körpers (beim Staat = das Land, die natürlichen
Ressourcen) und Weiteres mehr.

2)    Die Gesellschaft ist co-abhängig. Auch das hört man nicht gerne –
denn über Geld lässt sich mit vollem Portemonnaie gut diskutieren. Und
bei den Meisten Schweizern klingelt die Kasse (im Vergleich zu anderen
Ländern, auch in Europa) recht ordentlich. Ich vermute es reicht bei
allen Zuhörern gestern Abend für Essen, Wärme und ein Dach über dem Kopf
– das ist aber vielerorts nicht selbstverständlich. Was sind die
Anzeichen für Co-Abhängigkeit, Mit-Abhängigkeit, dem kranken System
gegenüber? Man hat keine klare Vorstellung, was „normal“ ist, man lügt,
wo es leicht wäre, die Wahrheit zu sagen (vgl. Bundesrat Merz), man ist
entweder übertrieben verantwortungsvoll oder völlig verantwortungslos,
etc.. Für alle Dynamiken eines Co-Abhängigen lassen sich in der
Wirtschaft und der Bevölkerung genug Beispiele finden. Wahrhaben will
dies aber scheinbar niemand, und so sucht man auch an der falschen Ecke.

Wer nicht erkennt, dass er süchtig ist nach Geld (und in einem
Suchtsystem lebt!), um sich damit Produkte zu kaufen, mit denen er sich
besser fühlt (so verspricht es zumindest die Werbewirtschaft), der kommt
keinen Schritt weiter in Richtung einer Genesung – und somit einer
Gesundung!

Ihr von Decroissance-Bern habt Euch der Aufklärung verschrieben, um den
Wachstumszwang zu entlarven, das ist gut. Schön, wenn ihr Euch auch
einmal dem Wachstumszwang zugrunde liegenden Thema widmet, der Sucht:
nach Geld, Anerkennung durch Produkte (Autos, Kleider, Handy,
Feriendestinationen, Erlebnisse, etc.) und Verschleierung der Tatsachen
(vgl. Öl-Konzerne).

Mit einem Gruss

R. S.

 


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Kommentare: 2
  • #1

    Stefan Wehmeier (Sonntag, 15 Mai 2011 11:31)

    Der Wachstumszwang sowie alle anderen Zivilisationsprobleme entstehen monokausal und zwangsläufig aus einer seit jeher fehlerhaften Geld- und Bodenordnung und der daraus resultierenden Zinsumverteilung von der Arbeit zum Besitz. Die Zusammenhänge sind im Grunde einfach zu verstehen, und im 21. Jahrhundert sollten die elementaren Konstruktionsfehler unserer makroökonomischen Grundordnung längst durch eine freiwirtschaftliche Geld- und Bodenreform korrigiert sein.

    Das dies dennoch nicht der Fall ist und die Makroökonomie insbesondere von "Spitzenpolitikern" und "Wirtschaftsexperten" bis heute nicht verstanden wird, beruht auf einer uralten Programmierung des kollektiv Unbewussten, welche die halbwegs zivilisierte Menschheit überhaupt erst "wahnsinnig genug" für die Benutzung von Geld machte (Edelmetallgeld ist immer Zinsgeld), lange bevor diese seitdem grundlegendste zwischenmenschliche Beziehung wissenschaftlich erforscht war.

    Wer sich von allen Vorurteilen befreien und die Basis allen menschlichen Zusammenlebens verstehen will, findet alle wesentlichen Informationen unter "Der Weisheit letzter Schluss".

    Alles andere enthält weitere Vorurteile.

  • #2

    R.S. (Montag, 23 Mai 2011 11:01)

    Meines Erachtens (und meiner eigenen Erfahrung nach) eine der grundlegenden Gedankenfehler in unserer Gesellschaft ist die Annahme, alles verlaufe monokausal (und liesse sich somit zurückverfolgen und Erklären (vgl. Chaostheorie)). Hier schimmert doch der Mythos der Objektivität, denn Kontrolle ist für den Abhängigen ganz wichtig, ebenso wie die Suche (nicht das Finden) der Wahrheit und der Ursachen ... "wenn dann" - und alles wäre besser. Ohnmacht ist eben schlecht auszuhalten.
    R.S.